Hotroç

Der Hotroç ist ein Beispiel dafür, was für seltsame Effekte bisweilen an den Randzonen größerer Magiewirkung auftreten können, wenn man nicht auf die Resonanzen aufpasst. Welche Zauber im Einzelnen den Hotroç hervorgebracht haben kann wohl kaum mehr nachvollzogen werden. Doch hat mit Sicherheit keine der beteiligten Parteien einen solchen Baum gewollt.

Am Rande eines Feldes, vormals landwirtschaftliches Nutzland, stand eine einsame Rotbuche. Dummerweise lag dieses Feld ziemlich genau auf gerader Linie zwischen zwei sich in die Haare bekommender Magieinstitute. Diese nun nahmen sich gegenseitig ins Visier, und bewarfen sich mit immer neuen magischen Waffen. Zwar wurde der Hotroç nie direkt getroffen, aber wie das so ist mit Waffen in einem Krieg, man kümmert sich nicht groß darum, ob in einem Seiteneffekt vielleicht etwas kaputt gehen könnte. Es ist auch nicht mehr ersichtlich, ob für die Entstehung des Hotroç der letzte Schlag entscheidend war, der die Gilde von Hasta in einem gewaltigen Sturm vom Erdboden saugte, darüber eine Gewitterwolke entstehen ließ, aus der schließlich ein Blitz hervorschoss, der die Gilde von Dafset verbrannte, oder ob seine Entwicklung schon lange davor einsetzte.

Der Hotroç hatte nun die ganze Sache auf den ersten Blick relativ unbeschadet überstanden. Einige abgebrochene Äste, eine Seite etwas angekohlt, aber nichts, was so einem Baum wirklich schaden würde. Einige Zeit schien es auch so, als wäre mit dem Ende der beiden Gilden in dieser Region zunächst Ruhe eingekehrt. Der Hotroç entwickelte sich langsam.

Erst nach und nach fiel Bauern und vereinzelten Söldnertrupps auf, dass sie sich am Hotroç nicht richtig konzentrieren konnten, und teilweise wichtige Dinge vergaßen. Denn das war es, was mit dem Hotroç geschah: In der frühen Phase seiner Entwicklung betätigte er sich als psychischer Vampir. Er nahm Gefühle und Gedanken in sich auf. Diese kopierte er nicht einfach, sondern zog sie von seinen Opfern ab. Zunächst völlig ungerichtet, das was er am einfachsten bekommen konnte. Also genau das, was seinem Opfer momentan am wichtigsten war, da es sich an der Oberfläche seines Bewusstseins befand.

Anfangs erlernte er so nicht mehr, als tierische Instinkte und Triebe, denn Menschen mieden das ungeschützte Land in einem andauernden Magierkrieg. Da konnte man wohl beobachten, wie ein Fuchs sich an einen Hasen anschlich, um kurz vor dem entscheidenden Satz unverrichteter Dinge von Dannen zu ziehen. Oder wie sich ein Vogelpärchen in verliebtem Spiel im Geäst niederließ, um kurz darauf unabhängig voneinander in unterschiedliche Richtungen davonzufliegen.

Doch was sollte der Hotroç, Baum der er war, damit anfangen. Da ihm jede Möglichkeit der Fortbewegung fehlte konnte er weder Jagen, noch fliehen, oder sich einen Partner suchen.

Erst, als im laufe vieler Jahre wieder und wieder einige Menschen und denkende Kreaturen in seinen Einflussbereich kamen entwickelte er langsam ein Bewusstsein, und erlernte zudem die Möglichkeit tiefer in die Gedankenwelt einzudringen und dort gezielt zu suchen. Die meisten Menschen freilich waren Flüchtlinge oder Kämpfertrupps. So entwickelte der Hotroç aus den unterschiedlichen Eindrücken recht eigentümliche Vorstellungen von Freund und Feind, Pflicht und Gehorsam.

Irgendwann einmal muss ein Magier in seine Nähe gekommen sein, denn der Hotroç erfuhr Bruchstücke über die Magie. Die Möglichkeit, über die Grenzen seines starren Körpers hinaus agieren zu können muss ihn fasziniert haben. Von da an suchte er gezielt nach solchem Wissen. Beinahe wäre dies sein Ende gewesen, denn er nutzte sein neues Wissen, um seine Opfer festzuhalten, bis er sie vollständig ausgesaugt hatte. Und solches musste auffallen, selbst in diesen schweren Zeiten. Die Kriegsparteien waren nicht zimperlich, wenn sie eine mögliche Gefahr vermuteten. Als der Hotroç von seiner Enttarnung und den Ursachen davon erfuhr sah er sich bereits ersten Angriffen ausgesetzt.

Doch wieder kam ihm das Geschick zur Hilfe. Ein Feldzug, geführt von der Bruderschaft des rechten Weges fegte alle lokalen Magiergilden, und damit das Wissen um den Hotroç hinweg. Der Hotroç begann nun etwas subtiler vorzugehen. Das neu erworbene Wissen nutzte er, um nichtsahnende Opfer herbeizulocken, denen er gezielt Erinnerungen entnahm, gerade so viel, wie nach den Erfahrungen seiner bisherigen Opfer noch als natürliches Vergessen gelten konnte. So lernte er gezielt, Gelehrte und Magier anzulocken, und mit deren Wissen seinen Einflussbereich zu vergrößern.

Bis ihm ein bestimmter Zauber zufiel. Der Hotroç lernte, wie er in fremde Gedankenräume eindrang, diese zu lesen, ohne sie aussaugen zu müssen. Er erlernte, wie er fremde Geschöpfe beeinflusste, sie zu seinen Sklaven machte, in Gehorsam zu ihm zwang. Und er erlernte, wie er die Sinne seiner Opfer unmittelbar benutzen konnte, schließlich, wie er ihre Körper unmittelbar bewegen konnte.

Natürlich konnten solch gewaltige Einflussnahmen, mit denen sich der Hotroç nun seine eigene Armee aufbaut den großen Kriegsparteien nicht verborgen bleiben. Wären die Bruderschaft, Ktaxhatl und Andere nicht so sehr in ihren eigenen Streit vertieft, hätte das Dämonentor oder Staïchal noch existiert, so wäre ihm wohl ein recht kurzer Triumph beschieden gewesen. Doch so hatte niemand die Gelegenheit sich mit einem Baum zu beschäftigen.

Nun sind alle diese großen Gilden vernichtet oder verschollen. Der Hotroç ist nur eingeschränkt durch die Grenzen der Kraft, die er kontrollieren kann, und die Grenzen seines Wissens. Bisher konnten sich alle besseren Magier seinem Zugriff entziehen. Doch der Hotroç hat viel Zeit. Und noch viel zu lernen. Und wer weiss schon genau zu sagen, welche Ziele eine intelligente Pflanze verfolgen möchte?