Der Regenwürfel

Der Regenwürfel ist entstanden als teil eines Zoomquiltprojekt der Weltenbastler. Es ist die erste Geschichte um Ejhastnub und Sihijad.


Ein frisch benutzter Weg führte in die Höhle hinein. Nun, warum auch nicht. Ejhastnub hatte schon so manche Seltsamkeit gesehen. Und eine Höhle mochte nicht der unsicherste Ort sein hier in den Bergen.
"Willst Du da wirklich rein?" Ejhastnub drehte sich um. Dieser Ausdruck war ihm bisher fremd geblieben, im Gesicht der Fentin.
"Aber sicher. Dort ist eine Stadt, wo eine Stadt ist kann man handeln, und vom Handel lebe ich. Was hast Du, Sihi?" Nie hatte Sihijad vor irgend etwas Angst gehabt.
"Das ist so eng. Kein Platz an den Seiten. Der Berg wird mich erdrücken." Sie sah ihn mit schmalen Augen an. Dann sagte sie mit Bestimmtheit: "Ich warte hier." Diesem Ton hatte Ejhastnub nichts entgegenzusetzen. Einer Fentin, die vor Raumangst ihre Beherrschung verlor wollte er um nichts in der Welt gegenüber stehen.
Daher meinte er schließlich nur: "Pass auf Dich auf."
"Bring mir was schönes mit." Mit diesen Worten verließ Sihijad den Wagen. Diesen Satz musste sie irgendwann unter den Menschen aufgeschnappt haben. Die Fentin machte sich nichts aus Besitztümern.

Die Lampen am Wagen stellten sich bald als unnötig heraus, da von den Wänden des Stollen ein seltsames rotes Licht ausging. Zwar war es nicht hell, doch beleuchtete es ausreichend den Weg. Und schon bald erstrahlte die Stadt in der Höhle vor ihm. In einer Höhle, deren Ausmaße er nicht für möglich gehalten hätte erhoben sich beleuchtete Säulen zwischen ebensolchen Häusern. Durch das rote Glimmen erschien innerhalb der Stadt auch mancherorts ein wesentlich stärkeres blaues Leuchten. Dennoch wollte Ejhastnub nicht auf seine Lampen verzichten. Die Bewohner dieser Stadt mussten sehr gute Augen haben, um sich in diesem Zwielicht zurechtzufinden. Nach einer Weile war er nahe genug heran, um die Bewohner erkennen zu können. Sie alle waren recht klein geraten. Seine Kleidung würde er hier wohl kaum los werden.

Am Stadttor wurde er von zwei der Zwerge, anders konnte er sie ob ihrer Körpergröße wirklich nicht bezeichnen, aufgehalten. Dies war ihm nicht ungewöhnlich. Bei dieser Gelegenheit pflegte er die Wachen nach den örtlichen Gepflogenheiten zu befragen. Noch bevor sie heran waren rief er ihnen entgegen: "Wohlan, werte Behüter dieser Stadt. Sagt an, ob es einem fahrenden Händler gestattet sei, dieserorts seine Waren feilzubieten?"
Die Wachen sahen sich kurz an, ein belustigter Ausdruck schlich sich in ihre ernsten Minen.
"Was für Waren habt ihr denn feilzubieten?"
"Nun, was sich auf meinem Wege ankaufen ließ, um es zu diesem erlesenen Ort zu bringen. Feinste Töpfe und Krüge aus den Werkstätten der Mönche zu Hermel, also biete ich Pelze und Stoffe aus Admont, fein gearbeiteten Schmuck der Meister dortselbst, Kräuter und Gewürze aus aller Herren Länder, ja selbst die geheimnisvolle Magierinsel besuchte ich, um dem hiesigem Volke zu gefallen zu sein."
Seltsamerweise waren die Wachen von der Aufzählung der fremden Orte nicht im Geringsten zu beeindrucken. "Habt ihr Waffen?"
"Wohl befinden sich unter meinen Waren zwei Dolche und einige Spieße, feinster Machart, die ..."
"Waffen könnt ihr hier lassen" wurde Ejhastnub in seinem Redefluss unterbrochen, "und bei der Abreise wieder abholen. Den Wagen ebenso."
Nun war es an Ejhastnub, nach den richtigen Worten zu suchen. "Meinen Wagen soll ich zurücklassen? Meine treuen Torgen? Die doch zu einem Teil meiner Familie wurden! Die Tiere, die die Freiheit der weiten Ebene kannten, den Wind auf hohen Gipfeln, die mich treu an jeder Gefahr vorüberzogen zurücklassen? Weiss ich denn, ob sie in einem Stall nicht verenden?" Die Blicke wanderten zu den über mannshohen Kolossen vor dem Wagen, die die Pause genutzt hatten ein Schwein von einem Abfallhaufen zu vertreiben und sich nun selbst an diesem gütlich zu tun. "Dann Verkauft Eure Waren eben ausserhalb der Stadt." Mit diesen Worten begaben sich die Wächter wieder an ihre Posten.

Auch über den Marktstand vor den Toren war Ejhastnub nicht unglücklich. Nur wurde ihm normalerweise direkt gesagt, dass man kein fahrendes Volk in der Stadt haben wollte, und dies nicht auf irgendwelche Waffen, oder seinen Wagen geschoben. Er steuerte seinen Wagen ein Stück neben die Straße und breitete dort seinen Stand aus.

Seine Dolche hatte Ejhastnub schon bald wieder von der Auslage genommen. Die Zwerge hatten nur verächtliche Blicke für diese übrig. Sonst machte Ejhastnub ein gutes Geschäft. Den kleinen Griesgram bemerkte er erst, als er direkt vor ihm stand.

"Verkauft ihr nur, oder kauft ihr auch?" War die knappe Anrede, ohne seinen abschätzigen Blick von den Waren zu heben.

"Wenn ich nicht kaufte, edler Herr, so hätte ich wohl bald nichts mehr feilzubieten. Darf ich euren Worten entnehmen, dass ihr etwas anbieten wollt?"

Wortlos holte der Zwerg einen hölzernen Gegenstand hervor. Zunächst dachte Ejhastnub, dass es sich hierbei um einen einfachen Würfel handelte. Doch war es eine Schatulle. Sehr feine Holzschnitzereien zierten die Seiten, sowie den Deckel. "Was würdet ihr mir hierfür geben?"

Ejhastnub betrachtete den Schatullenwürfel eingehend. Es war wirklich eine sehr feine Arbeit, aus einem ihm unbekanntem Holz. Ja, jede Seite schien aus einem Anderen gefertigt. "Ein schönes Stück. An solcherlei Kleinoden hängt doch sicherlich auch eine Geschichte?" Vieles, besonders von den ausgefallenen Waren ließ sich besser verkaufen, wenn Ejhastnub eine darüber erzählen konnte.

"Nein. Der Kasten ist sehr fein gearbeitet, ein Meisterwerk. Als solcher schon einiges Wert."

"Das sehe ich. Doch ist er auch nicht besonders groß. Als Schmuckkasten wohl geeignet, doch kaum für größeres." Ejhastnub überlegte, was wohl ein angemessener Preis währe in Anbetracht der anderen, die er hier erzielt hatte. "Würdet ihr ihn mir für fünf Silberlinge überlassen?"

"Nun, es ist doch ein fein gearbeitetes Stück. Ich dachte an mindestens Sieben."

Ejhastnub betrachtete weiter den Würfel. Doch es fiel ihm kein Makel auf, mit dem er den Preis hätte drücken können.

"Nun gut, so sieben Silberlinge." Mit diesen Worten legte er das verlangte Geld auf den Tisch. Der Zwerg betrachtete verdutzt die ihm fremde Prägung, doch dann strich er das Silber ein und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren seiner Wege.

Als der Strom der durch das Tor reisenden dünner wurde beschloss Ejhastnub, dass es nun auch für ihn Zeit war, zurückzukehren. Schließlich wurde er im Freien erwartet.

"Verehrte Damen und Herren, der Markttag kommt leider für mich zu einem Ende. Ich werde anderenorts erwartet, doch wer weiss was die Zeiten bringen, vielleicht stehe ich dereinst wieder hier, mit neuen Waren, neun Geschichten aus aller Welt." Mit diesen Worten schloss Ejhastnub den letzten Handel ab, schickte einige Kinder zurück und begann seinen Stand aufzuräumen. Unzufrieden war er mit den Geschäften nicht. Doch war er kaum dazu gekommen, seinen Warenbestand aufzustocken. Ausser dem Würfel. Irgendwie hatte dieser Würfel sich in seinen Gedanken festgesetzt. Er war sich sicher, kein schlechtes Geschäft gemacht zu haben. Doch irgendwas war falsch. Er wünschte sich, er könnte herausfinden, was es war.

Die Sonne war längst hinter den Bergen verschwunden, als Ejhastnub aus der Höhle heraus fuhr. Ein Gefühl der Fremdartigkeit wich von ihm. Er hatte es nicht bemerkt, bis es nun nicht mehr da war. Wahrscheinlich war es bloß die Umgebung gewesen. Diese Enge im Berg. Irgendwo konnte er Sihi ja verstehen, dass sie hier nicht hinein hatte wollen.
Ach ja, Sihijad. Die junge Fentin hatte ja hier auf ihn warten wollen. Wo mochte sie nur sein?
Im Dämmerlicht der aufsteigenden Nacht mochte es sich für ihn als unmöglich erweisen, sie zu erspähen. Schon wollte er sich darauf verlasen, dass sie ihn mit ihren viel besseren Sinnen fand. Doch der Lichtschein eines Feuers löste sein Problem. Dort saß tatsächlich Sihi, gegen einen Felsen gelehnt und briet ein Stück Fleisch.
Im Schein des Feuers sah sie so unglaublich zart und schutzbedürftig aus. So genau das Gegenteil von dem, was sie war. Das Licht des Feuers spielte im seidigen Glanz ihres Fells. Nur ein Zucken des Haarbüschels an ihrer Ohrspitze verriet, dass sie Ejhastnubs kommen bereits bemerkt hatte. Ohne eine Regung erwartete sie die Ankunft des Wagens. Bei einem Menschen hätte leicht ein arroganter, oder beleidigter Eindruck entstehen können, doch für die Fentin war dies die Art, auf die sie ihr Vertrauen ausdrückten. Erst als einer der beiden Torgen sie mit seiner Nase anstieß reagierte sie und schob ihm ein großes Stück Fleisch ins Maul. Der grunzte zufrieden, und als ob er wüsste, dass sein Tagewerk getan war ließ er sich zu Boden sinken.

Da hielt auch Ejhastnub nichts mehr im Wagen. "Sei gegrüßet zur Abendstunde, Sihijad. Hast Du den Tag angenehm verbracht?" Der Bratenduft stieg in seine Nase, und sein Magen wies lautstark auf die heutige Vernachlässigung hin. "Ich habe mir einen Ork gepflückt. Willst Du auch was?" Mit unschuldigem Lächeln hielt sie ihm eine Keule hin.
"Ein Ork? Aber ein Ork kommt niemals alleine. Wo ist sein Rudel?"
"Der war erst alleine. Dann hat er aber geschriehen. Wie er mich gesehen hat. Aber nur kurz. Hat aber gereicht. Die Anderen sind dann gekommen. Die waren ziemlich sauer, und haben gefragt, was das denn soll. Da habe ich gesagt, ich habe Hunger. Da ist dann so ein ziemlich großer von denen daher gekommen. Der hat gesagt, dass das so nicht geht. Dem hab ich dann gezeigt, dass er nicht mehr geht. Der ist aber schon zu zäh. Ich hab ihn für Deine Torgen da drüben hin gelegt. Den anderen Orks hab ich dann gesagt, sie sollen gehen."
"Und dann sind sie einfach so gegangen?" Ejhastnub hatte mit seiner Begleiterin schon so einiges erlebt. Doch schaffte sie es immer wieder, ihm den Atem zu verschlagen.
"Nein. Sie hatten einen jungen Bock dabei. Den haben sie mir noch gegeben. Für Dich" Sie holte aus dem Schatten hinterm Fels eine Holzplatte mit fertig angerichtetem Wildprett an einer Pilz-Kräuter Sauce hervor. Seinen fassungslosen Gesichtsausdruck deutete sie vollkommen falsch:
"Ich wollte Dich überraschen. War das dumm?"
"Nein, das war .." Dann musste Ejhastnub lachen. "Ich dachte schon allen Ernstes, du wolltest mir einen Ork anbieten. Wo hast Du das ganze Kochgeschirr her?"
"Das hatten die Orks dabei."
"Nun gut. Ich muss noch meine Tiere versorgen, dann machen wir uns einen schönen Abend."

Ein fernes Donnergrollen kündigte keine trockene Nacht an. So zogen sich Ejhastnub und Sihijad bald in den Wagen zurück, gerade bevor eine Regenwand ihre Fluten herniederprasseln ließ. Während Sihijad sich sofort auf ihrem Kissen zusammenrollte holte Ejhastnub nochmals den Würfel hervor. Nur im Schein seiner Lampe konnte er die feinen Schnitzmuster kaum noch erkennen. Doch schien es ihm, als ob dieser Würfel in seiner Hand vibrierte. Nun das mochte eine Einbildung sein, und konnte morgen bei Tageslicht besser geklärt werden. So legte auch er sich auf sein Lager und schlief bald ein.

Noch immer klopfte der Regen auf das Blechdach des Wagens, als Ejhastnub am nächsten Tag erwachte. Ein Schrei von draussen verriet ihm, dass Sihi mit ihrem Liblingsfrühsport beschäftigt war. Zeit, den neuen Tag zu begrüßen.
Mit weißem Schaum bedeckt schoss ein frischer Sturzbach an der Stelle vorbei, wo gestern noch das Lagerfeuer gewesen war. Mitten dort drin stand die Fentin und versuchte sich an einem Ringkampf mit ihrem Liblingstorgen. Dieser ließ ein wohliges Brummen hören. Das massige Tier dachte wohl es bekäme einige Streicheleinheiten verabreicht.
"Sihi, hilf mir bitte, die Torgen anzuspannen."
"Sofort, Ejh - aaaaa" Weiter kam sie nicht, da ihr Gegner kurz mit dem Kopf wackelte und sie in hohem Bogen in das Rinnsal flog.

Die Torgen waren bald darauf wieder bereit weiterzuziehen.
"Wo wollen wir heute hin?"
"Ich will nicht noch weiter ins Gebirge. Bei so einem Wolkenbruch möchte ich auf keinen Fall in eine enge Schlucht geraten." Beide befanden sich im Wagen. Die Torgen fanden alleine einen sicheren Weg, und nur selten musste Ejhastnub die Richtung korrigieren. Bei dem wieder zunehmenden Regenguss konnte er ohnehin kaum etwas sehen, und verließ sich lieber auf die bewährten Instinkte der Tiere. "Was ist das?" Sihijad zeigte auf den Würfel, den Ejhastnub vom Vortag noch nicht wieder weggeräumt hatte.
"Eine künstlerische Schatulle. Ich habe sie gestern in der Bergstadt gekauft."
"Sieht nach Regen aus."
"Wie meinst Du das?" Ejhastnub nahm den Kasten. In die Verzierungen ließ sich alles Mögliche hineininterpretieren. Doch Regen?
"Ich weiss nicht genau. Ich sehe ihn an und denke an schlechtes Wetter. So wie da draussen. Nur schlimmer." Nun fiel Ejhastnub auf, dass der Kasten tatsächlich zitterte. Waren es nur Sihis Worte, die diesen Eindruck hervorriefen, oder passte sich der Würfel dem Rhythmus der Regentropfen an?
"Der Würfel will den Regen haben."
"Sihi, was redest Du da? Wie soll eine Schatulle Regen haben wollen."
"Du hast den Kopf so voll von schlauen Sachen. Darum siehst Du die einfachen Dinge nicht mehr. Der Würfel will den Regen." Ejhastnub öffnete eine Fensterklappe am Wagenrand. Kaum dass er den nächsten Fels wahrnahm, obwohl es gerade knapp über Mittag war.
"Wir werden bald aus den Bergen draussen sein. Dann werden wir den Würfel so bald als möglich verkaufen, wenn er Dir Angst macht."
"Er macht mir keine Angst. Er macht mich nass. Wenn ich raus gehe."

Weder an diesem, noch am nächsten Tag durchbrach auch nur ein einziger Sonnenstrahl die Wolkenwand. Im Gegenteil, Ejhastnub bekam den Eindruck, dass der Regen sich immer weiter verstärkte.
Nach zwei Tagen brachten sie den letzten Berg hinter sich. Doch nicht die Spur einer Ansiedlung war hier zu finden. Stattdessen zogen die Torgen sie durch ein hügeliges Waldland. An ein Aussteigen war hier nicht zu denken. Dornige Ranken Griffen nach allem, was sich bewegte. Mehrmals mussten gar die Torgen eine solche zerbeissen, die sie mit ihren gewaltigen Kräften nicht abreissen konnten. Ein weiterer Tag ließ die Vorräte knapp werden. Wenigstens schienen sie in eine friedlichere Gegend zu kommen. Es gab wieder Tiere. Nur selten einmal verwechselte eines von ihnen einen Torgen mit einem Beutetier und erfuhr auf diese Weise, warum die Torgen dicke Schuppen hatten, oder auch wozu die Dornen auf diesen gut waren.
Das Wetter hingegen verschlimmerte sich weiter. Donnergrollen trotz tagelangem Regens erhob sich über der Landschaft. Fast schon war es tagsüber so dunkel wie in der Nacht. Die Nächte ließen nicht mehr die geringste Spur eines Mondenscheines sehen.

"Ejha, tu den Würfel weg." Kam Sihijad wieder auf dieses Thema zurück.
"Du meinst immer noch, er hängt mit dem Wetter zusammen?"
"Ich weiss es." Ejhastnub war inzwischen auch zu dieser Überzeugung gekommen. Zu ungewöhnlich war dieses Wetter um diese Jahreszeit. Gerade wollte er ihn aus einer Truhe holen, als ein Donnerschlag ihn allein durch die Wucht seines Knalls zu Boden warf. Der ganze Wagen erstrahle in einem gleissenden Licht. Funken sprühten in den Ecken, wo Verzierungen aus Ebereschenholz zur Magieabwehr in das Eisen eingearbeitet waren.

"Was war das?" Noch nie war die Stimme der Fentin so dünn gewesen.
"Ein Blitz. Uns hat ein ziemlich heftiger Blitz getroffen. Und das trotz des ganzen Regens. Aber Du brauchst keine Angst zu haben. Hier drin sind wir sicher." Ejhastnub hielt inne, als er plötzlich bemerkte, dass sich der Wagen nicht mehr bewegte. Als er durch die Luke nach vorne hinaus blickte fühlte er, wie ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich als er das unmögliche erblickte. Was die Fentin auch nicht im Ansatz vermocht hatte. Was für Heerscharen räuberischer Kreaturen aller Art unmöglich gewesen war, der Himmelsspeer hatte es im Bruchteil eines Augenschlags erreicht: Einer der Torgen, jenes Tier, das das Gewicht des Eisenwagens nicht einmal zu spüren schien, das unbeirrt durch Echsensümpfe getrabt war, das den Sirenenstrauch zu seiner Leibspeise zählte, jenes von keiner Gefahr beeindruckbare Tier lag regungslos am Boden.
Sihijad, die neben ihn getreten war stieß einen spitzen Schrei aus, und noch bevor Ejhastnub überhaupt zu einer Reaktion fähig war sprang sie aus dem Wagen raus, umarmte den Torgen und versuchte ihn wieder auf die Beine zu stellen.
Ejhastnub kam ihr hinterher. Noch immer zitterten seine Knie, dass er fürchten musste im nächsten Moment umzufallen. Doch brachte er hervor: "Sihi, das hat keinen Sinn. Ist er tot?" Es fiel ihm schwer, solches zu akzeptieren. Er kniete sich neben den Torgen und löste sein Joch. Dabei befühlte er die Kehle des Tieres, seine einzige weiche Stelle. Doch bevor er etwas fühlen konnte war Sihijad wieder mit einem Wutschrei aufgesprungen und im Wagen verschwunden. Mit klammer Hand setzte Ejhastnub seine Untersuchung fort. Beinahe hätte auch er aufgeschriehen, allerdings vor Freude, als er noch einen schwachen Pulsschlag wahrnahm.
Während er sich daran machte, den Torgen vom Rest seines Geschirrs zu befreien sprang Sihijad wieder aus dem Wagen, in der Hand den Würfel, den sie für die Ursache allen Übels hielt.

Ein weiterer Blitz fuhr vom Himmel hernieder und spaltete eine nahe gelegene Eiche. Trotz des kräftigen Regenschauers schlugen sofort hohe Flammen aus dem Stamm. Im unsicherem Licht des Brandes erschien es nun Ejhastnub, als bräche der Würfel in ein diabolisches Gelächter aus. Obgleich er sich sicher war, dass dies nur eine Täuschung durch das Spiel des Flackerlichtes auf der Musterung des Kastens sein konnte, ließ dieser Anblick ihn frösteln. Einen letzten unsicheren Einwand hatte er seiner Begleiterin gegenüber vorzubringen: "Schau Sihi, der Würfel ist ein Handelsgut. Wenn ich meine Waren einfach so wegwerfe, wovon sollen wir dann leben?"

Doch mit einem Blick auf den reglosen Torgen schnaubte sie: "Willst Du hier handeln?" Gegen diese Logik war nichts mehr einzuwenden. Außerdem hätte er die Fentin ohnehin nicht mehr aufhalten können, als sie an ihm Vorbei sprang, einem im Feuerschein sichtbar gewordenen Felsabhang entgegen. Ejhastnub konnte nur noch zusehen, wie sie den Würfel dort hinunter schleuderte.
Doch da war ihr Zorn auch schon wieder verraucht. Fast schien sie etwas zu schrumpfen.
"Ejha, kommst Du mal?"
Leicht irritiert begab sich nun auch Ejhastnub zu dem Graben. Sein Blick folgte dem ihren. Von dort unten leuchtete aus den Fenstern eines Anwesens ein Licht herauf.
"Bekommt der jetzt Probleme wegen mir?" War die Besorgnis in ihrer Stimme gespielt, oder echt? Selbst nach all der Zeit mit ihr konnte er das nicht sagen.
"Der Würfel wird wohl weit genug von diesem Hof entfernt liegen."
"Da, in dem Fass auf dem Dach." Die Fentin musste noch bessere Augen haben, als Ejhastnub bisher geahnt hatte. Kaum konnte er dort unten Konturen ausmachen, und sie wollte den Flug des Würfels bis dort hin verfolgt haben. Dass sie so weit geworfen haben wollte war weniger überraschend.
"Und wenn schon. Jedenfalls ist es nicht mehr unser Problem." Mit diesen Worten drehte er sich wieder um. "Da, schau!"
Unbemerkt von den Beiden hatte das Gewitter nachgelassen, ja, sogar der Regen schien nicht mehr ganz so schwer auf Ejhastnubs Hut zu prasseln. Und war das nicht gar ein dünner silberner Streifen, dort hinten am Horizont?

Ohne Hast gingen die Beiden zurück zum Wagen. Sihijad schritt direkt auf den gefallenen Torgen zu. Als ob ihm ihre Umarmung neue Kraft verlieh hob dieser zunächst den Kopf, anfangs noch taumelnd erhob er sich dann und sie mit sich empor.